Aktienbewertung

Anlagethema, April 2017

Aktienbewertung

Viele Menschen kennen das Gefühl: An den Finanzmärkten geschehen Dinge, die aus der Distanz kaum nachvollziehbar sind. Seien es nun Crashs, Blasenbildungen, Luftlöcher oder V-Korrekturen – aus der Perspektive des Einzelnen ist nicht immer ersichtlich, dass es sich bei der Börse um einen freien Markt handelt, wo die Preisbildung stets rational vor sich gehen sollte. So zumindest die Annahme vieler. Ob eine Aktie einem Portfolio hinzugefügt wird oder ob man sich von ihr verabschiedet, hängt mit dem Preis zusammen. Liegt dieser niedrig, kaufe ich, ist er hoch, verkaufe ich. Simpel, nicht?

Was nun jetzt als «günstig» gelten darf und was als «teuer», ist nicht jedem einzelnen Finanzmarktteilnehmer klar. Zumindest scheint dies der Fall zu sein, denn für eine gegebene Aktie findet sich in den allermeisten Fällen mindestens ein Analyst, der sie zum Kauf empfiehlt («Buy-Empfehlung»), aber auch einer, der den Anlegern den Verkauf nahelegt («Sell-Empfehlung»). Dazwischen liegt der Rat, die Aktie zu halten («Hold»), d. h. keine neuen Käufe zu tätigen, aber sie auch nicht aus dem Portfolio zu eliminieren.

Die Einschätzungen bezüglich des «wahren Werts» gehen also weit auseinander. Dies ist auch anhand der volatilen Kursbewegungen einzelner Titel ersichtlich: An einem Tag steigt der Aktienkurs um einen zweistelligen Prozentbetrag, am nächsten fällt er wieder in derselben Grössenordnung. Haben sich die Fundamentaldaten innert 24 Stunden derart verändert? Oder ist «der Markt» über Nacht zu einer neuen Einschätzung gekommen? Beides mag zwar der Fall sein. Viel eher mag aber als Begründung gelten, dass Gruppen mit unterschiedlichen Bewertungseinschätzungen zu dieser Aktie zu verschiedenen Zeiten am Markt tätig sind. Für die vorliegende Ausgabe unseres «Anlagethemas» wollen wir eine Übersicht geben, welches die grundlegenden Ansätze der Aktienbewertung sind, wo die Sensitivitäten liegen und weshalb es sein kann, dass gestandene und erfahrene Analysten über Jahre «falsch» liegen können – trotz ihres Wissensvorsprungs gegenüber der grossen Masse der «Laienanleger». Den Schluss macht eine Betrachtung, wie sich die Bewertung der globalen Aktien aktuell darstellt: Sind diese «teuer», wie einzelne Stimmen monieren, oder kann angesichts des wirtschaftlichen Umfelds auf eine «Neubewertung» (d. h. weiter ansteigende Aktienkurse) spekuliert werden?

Verschiedene Bewertungsmodelle
Es existieren viele Ansätze zur Bewertung einer gegebenen Unternehmung. Die Frage nach dem Fortführungsprinzip steht ziemlich am Anfang. Im Gegensatz zur Liquidationsbewertung geht man dabei davon aus, dass die Unternehmung weit in die Zukunft hinein fortgeführt wird, was bei einzelnen Bewertungsansätzen (etwa der Abdiskontierung von zukünftigen Cashflows) im Mittelpunkt steht. Der «intrinsische Wert» eines Unternehmens basiert auf der subjektiven Einschätzung eines gegebenen Analysten, welches der «wahre» oder «faire» Wert eines Unternehmens denn sei. Dieser (individuelle) intrinsische Wert weicht vom Marktwert oder –preis ab, und es entstehen Über- und Unterbewertungen – zumindest in der Optik des Analysten. Auf aggregierter Ebene entspricht gemäss der Theorie der effizienten Märkte der Durchschnitt aller individuellen intrinsischen Werte dem Marktpreis zu jedem gegebenen Zeitpunkt. Für die Bewertung öffentlich handelbarer Aktien kommt der intrinsische Wert zur Anwendung, abzugrenzen vom «fairen Wert» (Wert, zu dem das Unternehmen den Besitzer wechseln würde, d. h. sich ein Käufer findet, der zu bezahlen bereit ist, was der Verkäufer verlangt auch «Marktwert» genannt), und vom Liquidationswert.

Absolute vs. relative Bewertungsansätze
An erster Stelle bei den Bewertungsansätzen in der Finanztheorie stehen absolute Bewertungsmodelle: Basierend auf Annahmen bezüglich der zukünftigen Entwicklung eines Unternehmens kann mittels der Definition eines Risikozinssatzes, der vereinfacht gesagt die Unsicherheit ausdrückt, ein Nettobarwert aller zukünftigen Dividenden («dividend discount model», DDM) bzw. der zukünftigen Mittelflüsse («discounted cash flows», DCF) berechnet und mit einer gegebenen Marktkapitalisierung verglichen werden. Dieser Netto-barwert entspricht dem intrinsischen Wert. Weil absolute Bewertungsmodelle auf einer Vielzahl von Annahmen beruhen und zudem deutlich komplizierter sein können als relative, wird vielfach auf letztere zurückgegriffen. Ein relatives Bewertungsmodell beruht auf Kennzahlen bzw. Vielfachen wie dem verbreitetsten unter ihnen, dem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV). Unterschieden wird in Preis-Vielfache («price multiple», das jeweils pro Aktie berechnet wird) und Unternehmens-Vielfache («enterprise multiple»). Zu letzteren zählen etwa der Unternehmenswert (Marktkapitalisierung plus Netto-Verschuldung, auch «enterprise value» bzw. «EV» genannt), dividiert durch den Gewinn vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen EBITDA («earnings before interest, taxes, depreciation and amortisation»). Der Vorteil bei der Anwendung der relativen Bewertungsansätze ist die schnelle Einordnung mittels leicht verfügbarer Daten im Kontext des gesamten Aktienmarkts («Universum») oder eines Sektors, etwa Nahrungsmittelprodu- zenten. Ein weiterer Vorteil ist die leichte Verfügbarkeit von Daten – der Gewinn pro Aktie beispielsweise, der für das KGV benötigt wird, wird vom Unternehmen in jeder Quartalsberichterstattung veröffentlicht.

Verbreitet sind die Preis-Vielfache:

  • Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV oder P/E, «price-to-earnings ratio»)
  • Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV oder P/B, «price-to-book ratio»)
  • Kurs-Cashflow-Verhältnis (KCV oder P/C, «price-to-cash flow ratio»)
  • Kurs-Umsatz-Verhältnis (KUV oder P/S, «price-to-sales ratio»)

Weiters sind auch Renditekennzahlen wie die Eigenkapital- bzw. die Dividendenrendite zu erwähnen. Je nach Unternehmen kommen unterschiedliche Masszahlen zur Anwendung, wobei die Auswahl dem Beobachter mitunter willkürlich erscheinen mag.

Beispiel einer absoluten Bewertung
Von bestehenden Bewertungen kann auf die vom Markt erwartete Entwicklung eines Unternehmens geschlossen werden. Anhand der absoluten Bewertungsansätze ist ersichtlich, welches die Annahmen über die zukünftige Entwicklung eines Unternehmens sind. An einem Beispiel soll dies veranschaulicht werden.

Das Unternehmen «Cavempt» ist im Konsumgüterbereich tätig. Es weist eine Marktkapitalisierung von CHF 10 Mrd. auf (10 Mio. Aktien à CHF 1'000) und hat im vergangenen Jahr 2016 einen gewinn von CHF 500 Mio. und einen Cashflow von CHF 200 Mio. erwirtschaftet. Aufgrund hoher Investitionen weist Cavempt einen beträchtlichen Verschuldungsgrad auf, gleichzeitig brüstet sich das Unternehmen mit einem sehr hohen Cashflow-Wachstum von 10 % p.a. in den nächsten 10 Jahren und 5 % p.a. hernach, welches auf die bereits erfolgten Investitionen zurückzuführen ist. Die Formel für den Nettobarwert der zukünftigen Cashflows lautet wie folgt, wobei die folgenden Abkürzungen verwendet werden: Cashflow=CF, 2017=17, Diskontrate=r (8 %), langfristiges Wachstum=g (5 %).

Als Formel für den Nettobarwert (net present value, NPV) gilt:

NPV= CF 17 / (1+r) + CF 18 / (1+r) 2 + CF19 / (1+r) 3 + ... + CF 26 /(1+r) 10 + Endwert

Der Endwert basiert auf der Annahme, dass das Wachstum bis in alle Ewigkeit bei einer stabilen Rate g fortgeführt wird. Mittels unendlicher geometrischer Reihe kann hergeleitet werden:

Endwert = abdiskontierter CF 27 /(r -g)

Setzt man die Zahlen nun in die Formel ein, ergibt sich als Nettobarwert der Cashflows 2017-2026 die Zahl von CHF 2,2 Mrd., als Endwert hingegen CHF 8,4 Mrd., zusammen CHF 10,6 Mrd. In dieser Betrachtung macht der Endwert fast 80 % der Unternehmensbewertung aus – basierend auf böswillig formuliert sehr willkürlichen Annahmen. In Abhängigkeit der Annahmen über die langfristige Wachstumsrate wie auch die Diskontrate kann der angenommene Wert des Unternehmens Cavempt enorm schwanken. Auf «aktueller» (d. h. in diesem Beispiel angenommener) Markbewertung läge das P/E bei 20x (10 Mrd. dividiert durch den Gewinn von 500 Mio.), was für das hohe Wachstumspotenzial eher niedrig erscheint. [Doch fragt sich heute, wie die Aussichten für die nächsten 10 Jahre erscheinen – die ewige Wachstumsrate erscheint zudem sehr hoch.]

Bleiben die übrigen Annahmen (Cashflow-Wachstum, Diskontrate) unverändert, verringert sich die Summe der Nettobarwerte aller zukünftigen Cashflows um knappe 20 %, wenn das endgültige Wachstum «nur» auf 4 % zu stehen käme. Auch mit der Diskontrate lässt sich übrigens trefflich spielen: Steigt die Diskontrate im Modell von 8 % auf 9 %, fällt die Bewertung mittels DCF-Methode um 25 %.

DCF-Bewertung von «Cavempt» (y-Achse) in Abhängigkeit der Diskontrate r (x-Achse) bei verschiedenen Annahmen bezüglich «ewiger Wachstumsrate g»

DCF-Bewertung von «Cavempt»

in Graphik 1 soll dies verdeutlichen: Je höher das angenommene langfristige Wachstum und je niedriger die angenommene Diskontrate, desto höher der Endwert und damit der gesamte Nettobarwert der zukünftigen Cashflows. Falls Diskont- und Wachstumsrate eine Differenz von 1 Prozentpunkt aufweisen, erreicht der Endwert das Hundertfache (!) des Werts, in diesem Beispiel des Cashflows von 2027).

(Nebenbemerkung 1: Falls die langfristige Wachstumsrate über der Diskontrate liegt, steigt der Nettobarwert ins Unendliche. Nebenbemerkung 2: Der Kontrast zwischen Gewinn (CHF 500 Mio.) und Cashflow (CHF 200 Mio.) in diesem Beispiel ist gewollt. Es soll veranschaulichen, dass der Begriff «Gewinn» deutlich einfacher manipuliert werden kann als die objektive Grösse Cashflow. Langfristig sollten Gewinne und Cashflows übrigens gleich hoch sein.)

Relativ einfach
Die relativen Bewertungskriterien wie das KGV sind in der Finanzpresse weit verbreitet. Auch wir bei Maerki Baumann nehmen als Start einer Betrachtung gerne die verschiedenen Kennzahlen eines Unternehmens und vergleichen sie mit der Konkurrenz. Ebenfalls kann für den Gesamtmarkt auf einfache Weise «das Bewertungsniveau» mit einem Blick erfasst werden. Jedoch ist es wichtig zu hinterfragen, wo man sich im Wirtschaftszyklus befindet, um Aussagen zur Bewertung machen zu können. So wird auf dem Höhepunkt der Rezession die Profitabilität vieler Unternehmen gering sein, was zu hohen KGV-Werten (Aktienkurs / tiefe Gewinne) führt und auf den ersten Blick einen «teuren» Aktienmarkt anzeigt. Auf der anderen Seite erscheint der Aktienmarkt in der Hochkonjunktur mit übermässigen Gewinnen eventuell allzu günstig, wenn man lediglich auf einzelne Kriterien abstellt. Wir ziehen deshalb das zyklisch-adjustierte Kurs-Gewinn-Verhältnis von Professor Robert Shiller («Shiller-P/E») vor, welches den heutigen Aktienkurs ins Verhältnis zum inflationsadjustierten 10-Jahres-Durchschnittsgewinn stellt. Andere Kennzahlen wie etwa das Preis-/Buchwert-Verhältnis sind weniger stark durch den Wirtschaftszyklus «verzerrt», weshalb an ihnen besser abgelesen werden kann, wie weit fortgeschritten im Börsenzyklus man bereits ist.

Aktuelle Situation
In Graphik 2 sind der Median für das KUV sowie das KGV des US-amerikanischen S&P 500 Index über die letzten 5 Jahrzehnte dargestellt. Es fällt auf, dass der Median des Kurs-/Umsatz-Verhältnisses deutlich über den Niveaus in der Vergangenheit liegt, während sich der Median des KGV zwar auf hohem Niveau befindet, aber noch keine Allzeithöchst erreicht hat. Dies reflektiert die Tatsache, dass momentan sehr hohe Gewinnmargen (Gewinn in Prozent des Umsatzes) erzielt werden. Ob diese gehalten werden können, steht in den Sternen. Kurzfristig, d. h. in den nächsten Monaten, wird aber erwartet, dass die Gewinne nach einer Phase von ca. zwei Jahren wieder im Umfang von 10 % zu steigen beginnen.

Median-KGV und Median-KUV des S&P 500 seit 1964

Quelle: Ned Davis Research

Klar ist aber auch: Sollte es zu einer Wirtschaftsabschwächung bzw. gar zu einer Rezession kommen, muss mit deutlichen Kursverlusten gerechnet werden. In solchen Perioden rückläufigen Wirtschaftswachstums brechen nämlich die Gewinne jeweils beträchtlich ein. Wenn man die Daten für den S&P 500 heranzieht, betrug in den letzten 40 Jahren der Gewinnrückgang in Rezessionen inflationsadjustiert zwischen 35 und 92 %. Dies bedeutet bei unveränderten Kursen eine Ausdehnung des KGV um 53 % auf 36,8x auf bzw. um 1'150 % auf 301x. Schlussfolgerung: Der US-Aktienmarkt ist historisch teuer, solange aber keine Rezession zu kommen droht, könnte sich die Bewertung noch weiter ausdehnen, was zusammen mit dem zu erwartenden Gewinnwachstum noch ein Potenzial von 10-30 % Rendite über die nächsten zwei Jahre verspricht. Viel hängt aber auch davon ab, wie sich die Administration Trump mit dem Kongress verträgt und ob es nicht zu einem Schock in einem anderen Erdteil kommen wird.

Betrachtet man die aktuelle Aktienmarktbewertung aus der Perspektive eines absoluten Bewertungsansatzes, könnte sich die Bewertung weiter erhöhen. Dies auf der Basis der Hypothese, dass das Zinsniveau langfristig auf niedrigem Niveau verharren wird, denn damit könnte argumentiert werden, dass die Diskontrate für die Barwert-betrachtung zu senken ist. Sofern die langfristige Wachstumsrate nicht im selben Ausmass gesenkt wird (in diesem Fall ändert sich der Endwert nicht), bedeutet dies eine gegebenenfalls deutliche Er-höhung der Bewertung. Es existieren somit Argumente dafür, dass der aktuelle Bullenmarkt noch andauern wird.

Zusammenfassung

  • Es existiert eine Vielzahl von Bewertungsmodellen für Aktien, welche in absolute und relative Bewertungsansätzeunterschieden werden.
  • Die absoluten Ansätze basieren auf einer Vielzahl von Annahmen, während die relativen Ansätze den Vorteil haben, einfach und rasch verfügbar zu sein.
  • Aktuell ist die globale Aktienbewertung eher hoch, doch existieren Bewertungsargumente, weshalb der aktuelle Bullenmarkt noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht hat.

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