Der digitale Konzertsaal ist im Wohnzimmer angekommen

Der digitale Konzertsaal ist im Wohnzimmer angekommen

Kann der Livestream eines klassischen Konzerts mehr sein als eine Notlösung?

Diese Frage beleuchtete ein hochkarätig besetztes Podium am 13. April 2021 aus verschiedenen Perspektiven.

Unter der Moderation von Christian Jungen, Leiter Zurich Film Festival, diskutierten:

  • Ilona Schmiel, Intendantin der Tonhalle-Gesellschaft Zürich
  • Christoph Lieben-Seutter, Generalintendant der Elbphilharmonie und Laeiszhalle in Hamburg
  • Martin Tröndle, Kulturwissenschaftler und Kultursoziologe an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen
  • Hans G. Syz-Witmer, Vizepräsident des Verwaltungsrats der Tonhalle-Gesellschaft Zürich und Miteigentümer der Privatbank Maerki Baumann & Co. AG

Akzeptanz von Livestreams ist gestiegen

«Immerhin, es gibt Publikum!» Ilona Schmiel freut sich, dass die Tonhalle wieder 50 Besucherinnen und Besucher pro Konzert empfangen darf, auch wenn ihr die Öffnungen zu wenig weit gehen. Sie würde es begrüssen, wenn die Publikumsgrösse in Relation zur Saalgrösse bemessen würde. Trotz der rigiden Vorgaben ist es für sie keine Frage, die Tonhalle zu öffnen. Um ein grösseres Publikum zu erreichen, werden ausgewählte Konzerte weiterhin live und kostenlos gestreamt. Auch bei der Tonhalle hat Corona zu einem Digitalisierungsschub geführt. Die Erfahrungen mit den Livestreams sind gut, aber sie werfen auch neue Fragen auf.

«Die Akzeptanz der digitalen Formate in der Pandemie ist eindeutig gestiegen und das Publikum ist dankbar, dass es Konzerte trotz geschlossener oder begrenzt zugänglicher Säle geniessen kann. Live sei der Musikgenuss zwar immer noch grösser, aber die digitalen Kanäle böten eine hohe Qualität.», so Hans G. Syz-Witmer. Bei seinem ersten Tonhalle-Livestream habe er sich zunächst via Handy in der Küche zugeschaltet, sich dann aber vor den Fernseher gesetzt, um die volle Tonqualität zu geniessen. Hans G. Syz-Witmer ist überzeugt, dass durch die neue Art des Konzertbesuchs ein neues Publikum erreicht werden kann, das auch dann in die Säle kommen wird, wenn diese wieder vollständig geöffnet sind.

Livestreams sind eine schöne Notlösung

Christoph Lieben-Seutter blickt «etwas neidisch» auf die Lockerungen in der Schweiz, gibt aber zu, dass er die Elbphilharmonie für 50 Besucher nicht öffnen würde, weil es zu aufwendig wäre. Er schätzt, dass das Konzerthaus an der Elbe frühestens im Sommer öffnen wird. Weiterhin werden Konzerte kostenlos als Livestreams zur Verfügung gestellt. Das Publikum habe sich gut an die Livestreams gewöhnt, trotzdem zeigt sich Christoph Lieben-Seutter nicht zufrieden damit. In der Oper oder im Theater sei Streamen sinnvoller, weil auf der Bühne viel passiere. Bei einem klassischen Konzert mit der statischen Anordnung der Musiker sei der Spannungsbogen hingegen begrenzt: «Live-Konzerte mit der Energie, der Spannung und dem Klang im Raum und den Begegnungen zwischen Künstlern und Publikum sind ein Gemeinschaftserlebnis», sagt er, «das ist durch nichts zu ersetzen.» Christoph Lieben-Seutter hält Livestreams darum für eine «schöne Notlösung». Er räumt ein, dass das Streaming für die klassische Musik und ihre Künstlerinnen und Künstler ein Fortschritt bedeutet und viele Möglichkeiten bietet, ein neues Publikum zu erreichen. «Ich bin kein Feind der Digitalisierung», sagt er, «ich glaube nur, dass das reine Abfilmen eines Konzerts noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist.»

Streaming als eigene Kunstform

Martin Tröndle erforscht den Wandel des klassischen Konzerts in grossen mehrjährigen Forschungsprojekten unter dem Namen «Experimental Concert Research». Dabei bringt er die Konzertforschung mit der aktuellen analogen und digitalen Musikpraxis zusammen und fragt, wie Menschen Musik in Abhängigkeit von der konkreten Gestaltung eines Konzerts erleben. Detaillierte Resultate liegen noch nicht vor, aber erste Ergebnisse von Befragungen und Messungen zeigen, dass ein digitales Live-Konzert ganz anders empfunden wird als ein Live-Konzert «in körperlicher Anwesenheit mit anderen». Der digitale Schub sei für Konzerthäuser und Musikveranstalter durchaus produktiv nutzbar. Anhand der Geschichte des klassischen Konzerts zeigt er auf, dass dieses nie statisch gewesen ist, sondern sich über die Jahrhunderte immer neu entwickelt hat. Er glaubt, dass «die digitalen Möglichkeiten zu einem neuen Konzerttypus beitragen können, der sehr erfolgreich werden kann». Laut Ilona Schmiel befinden sich Livestreams immer noch im Stadium der Experimentierphase. So probiert die Tonhalle unterschiedliche Lösungen mit unterschiedlichen Regieteams und digitalen Kanälen. Unter anderem wurde die Frage diskutiert, ob Applaus eingeblendet werden soll oder nicht – der Entscheid fiel dagegen aus. «Wir müssen schauen, dass Streaming eine Kunstform für sich wird», betont sie. Ganz wichtig findet sie auch, dass auf den digitalen Kanälen eine Form des Austausches und der Interaktion gefördert wird, was ein grundlegendes Element eines realen Konzertbesuch sei. «Für das Treffen an der Bar nach dem Konzert haben wir noch keine schlüssige digitale Ersatzlösung gefunden», sagt sie – ein Zoom-Apéro sei bestimmt keine Alternative.

Die Welten zusammenbringen

Für Christoph Lieben-Seutter bieten Livestreams durchaus interaktive Elemente. Er bezeichnet Youtube und Facebook als «die Treffpunkte der Welt», darum sind Konzerte der Elbphilharmonie auch dort zu sehen. Auf dem Messageing Board treffen sich dann die Konzertbesucher, um das Geschehen zu kommentieren und sich zu Communities zusammenschliessen. Leider fehle immer noch vertieftes Wissen über die Nutzerinnen und Nutzer und der Zugang zu ihnen, um die Konzerte anschliessend gezielt mit zusätzlichen Angeboten vermarkten zu können. «Es gibt noch viel zu tun, um die Welten zusammenzubringen», so Lieben-Seutter. Auch die Musikerinnen und Musiker hätten Interesse, digitale Plattformen nicht nur für Werbung zu nutzen, sondern auch für die Kontaktpflege und die Monetarisierung. Noch werden die Livestreams gratis angeboten, aber «was nichts kostet, ist auch weniger Wert», sagt Christoph Lieber-Seutter. Er stellt sich Überlegungen an, in welcher Kombination zukünftig Streams kostenpflichtig werden, dies auch als Wertschätzung gegenüber der Leistung der Kunstschaffenden. Je nach Aufführung dürften sich die Preise zwischen 10 und 20 Euro bewegen. Auch die Tonhalle ist laut Ilona Schmiel daran, Pricing-Modelle zu entwickeln. Der Aufbau einer Mediathek, die sich mit Livestreams und Videos monetarisieren liesse, hat eine hohe Priorität. Martin Tröndle hat zur Monetarisierung von Livestreams eine kleine Erhebung gemacht. Es zeigte sich, dass es derzeit noch kein Tarifmodell gibt, das sich rechnet und zu einer «echten Monetarisierung» beiträgt.

Das Konzert entwickelt sich immer weiter

Wie gehen wir in 15 Jahren ins Konzert? Martin Tröndle gibt zu bedenken, dass der digitale Konzertsaal schon über zehn Jahre alt ist und «wir immer noch auf kleinen Bildschirmen Konzerte verfolgen». Aber er ist zuversichtlich, dass die Technik weitere Fortschritte macht. So werde es dereinst möglich sein, mit einer Virtual-Reality-Brille ein Konzert in einem Raum mit anderen Menschen aus Tokio oder Sao Paulo zu erleben und anschliessend mit anderen Konzertbesuchern in Kontakt zu treten. Auch wenn die Körperlichkeit fehle, sei ein ganzheitliches Erlebnis möglich. Digitale und physische Angebote ersetzen einander laut Martin Tröndle nicht, genauso wenig wie CDs Live-Konzerte ersetzt haben - sie existieren nebeneinander. «Das richtige Konzert gibt es nicht», so sein Fazit, «es entwickelt sich immer weiter.» Die beiden Intendanten Ilona Schmiel und Christoph Lieben-Seutter sehen das genauso. Livestreams sind geeignete Plattformen, um mehr Menschen auf die Konzerte und Konzerthäuser aufmerksam zu machen. Sie sind auch ein willkommenes Zusatzangebot für ausverkaufte Konzerte oder für Konzertbesucher mit Terminproblemen. Vermehrt sollen dem Publikum gleichzeitig Tickets für das Live-Konzert und für den Livestream angeboten werden. Für Hans G. Syz-Witmer ist dies auch darum interessant, weil der für ein echtes Erlebnis so wichtige Live-Gedanke sowohl beim Konzertbesuch als auch beim Livestream immer gegeben ist. Als Filmproduzent zieht er die Parallele zur Filmindustrie und zu Netflix, das durch Streaming ein breiteres Publikum ansprechen konnte als das angestammte Kinopublikum. «Die Digitalisierung hilft uns enorm», sagt Hans G. Syz-Witmer, «wir müssen sie nur nutzen.»

Das Podium kann hier nachgeschaut werden:

 

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