Die Tonspur des Lebens

Die Tonspur des Lebens

Klassik oder Rock? Schallplatte oder Streaming? Zum Tanz oder zum Trost? Egal, Hauptsache Musik!

Der Flügel steht offen auf dem Konzertpodium. Das Orchester stimmt ein letztes Mal die Instrumente. Das Publikum hält den Atem an, schickt noch ein Räuspern durch die Reihen. Es gibt kaum etwas Verheissungsvolleres als die Augenblicke vor dem ersten Ton, wenn der Dirigent zum Auftakt, der Pianist zum ersten Anschlag ansetzt: Diese unüberhörbare Stille, bis die Musik ihre erlösende Kraft entfaltet.

Livekonzerte haben ihre eigene, unwiederholbare Wirklichkeit – das macht ihren Reiz aus. Sei es Klassik oder Rock – für Puristen ist es sakrosankt, eine musikalische Darbietung in Echtzeit zu verfolgen. Natürlich geht es um Melodien, um Interpreten und um Komponisten, aber in erster Linie geht es um das Gefühl, Teil von etwas Grösserem zu sein. «Der Wert von Musik als Gemeinschaftserlebnis ist immens», sagt Hans G. Syz-Witmer, Präsident des Verwaltungsrates der Privatbank Maerki Baumann.

Als Vizepräsident der Tonhalle-Gesellschaft Zürich betrachtet Hans G. Syz-Witmer das Musikgeschehen nicht nur aus persönlichem Interesse, sondern auch von Amtes wegen. Als die Tonhalle nach dem Lockdown im Frühling 2020 den Musikbetrieb wiederaufnahm, setzte ein Ansturm auf die verfügbaren Plätze ein – so gross war der Nachholbedarf nach Live-Erlebnissen. In der Zeit, in der die Menschen nicht in die Konzerthäuser gehen konnten, merkten sie erst, wie sehr es ihnen fehlte, mit Gleichgesinnten musikalische Schätze zu entdecken und zu heben.

«Der Wert von Musik als Gemeinschaftserlebnis ist immens.»

Hans G. Syz-Witmer, Vizepräsident Tonhalle-Gesellschaft Zürich, Präsident des Verwaltungsrates Maerki Baumann & Co. AG

Die Tonspur des Lebens

Klassiker waren Popstars
Weil das bis heute wegen der Pandemie nur eingeschränkt oder gar nicht möglich ist, bleibt einem nichts Anderes übrig, als Musik auf anderen Wegen zu geniessen. Während die einen ihre Hits noch immer von schwarzen Scheiben abspielen, entnehmen andere sie einfach der Cloud. Mehr und mehr nutzt auch alte Musik die Möglichkeiten der neuen Kanäle, um das Publikum zu erreichen: Grosse Orchester streamen ihre Konzerte, Pianisten vertreiben Podcasts, Musikschulen unterrichten online.

Viele Musikfans teilen ein in alte Musik und neue Musik, in «E» (ernst) oder «U» (Unterhaltung), in seichte und tiefgründige Melodien. Am Ende ist Musik einfach Geschmackssache. Wenn in einem Stück alles für einen stimmt – die Melodie, die Klangfarbe, das Timing – und das dann die Seele berührt, ist es ein Glück, egal, ob es von Mozart oder Metallica, von Bach oder Bligg stammt. «Ich hüte mich davor, die verschiedenen Genres und Künstler gegeneinander auszuspielen», sagt Hans G. Syz-Witmer, der sich selbst für ein breites Musikspektrum begeistert, das von Klassik über Jazz bis zu Rock reicht.

Gerade die Unterteilung in E- und U-Musik ist unsinnig, wenn man bedenkt, dass berühmte Komponisten, welche die bis heute wiederverwerteten Hits des 18. und 19. Jahrhunderts schrieben, in ihrer Zeit als Unterhaltungsgenies gefeiert wurden. Mozart war ein Popstar und Beethoven ein Querdenker, der ganz neue Klangwelten erfand. Von Franz Liszt ist bekannt, dass er während seiner Darbietungen mit dem Publikum plauderte. Die Stücke der Klassiker waren nicht als bildungsbürgerliche Erbauungsprogramme gedacht, sondern radikale Neuheiten zur Zerstreuung der Massen. Wie fruchtbar das Sprengen von musikalischen Grenzen sein kann, beweist auch Paavo Järvi, Chefdirigent des Tonhalle-Orchester Zürich: Er war einst Schlagzeuger in einer Rockband.

Direkter Draht zu den Emotionen
Mehr und mehr gibt es über die traditionelle Klientel hinaus enorm populäre Klassikstars wie Yuja Wang, Anna Netrebko oder Lang Lang, die es mit den Genre-Grenzen nicht so genau nehmen und damit ein neues, junges Publikum ansprechen. Lang Lang bringt seine Darbietungen über YouTube in die Wohnzimmer: «Lang Lang and Friends: Reaching Dreams Through Music». Mit dabei sind Jazz-Ikone Diana Krall, Sopranistin Renée Fleming oder Schmusesänger Sam Smith. Die Gäste erzählen, wie Musik ihr Leben verändert und oft sogar gerettet hat. Lang Lang: «Mit vier Jahren schaute ich mir Konzerte im TV von Vladimir Horowitz in Moskau an. Als ich sah, wie die Menschen im Publikum weinten, spürte ich die Macht der Musik.»

Kaum ein Genre verdeutlicht die Macht der Melodien als Filmmusik. Und kaum einer weiss das besser als Hans G. Syz-Witmer, der Kameramann gelernt und als Filmemacher und Filmproduzent Dutzende Spiel- und Werbefilme realisiert hat. Jeder hat schon den Schauer erlebt, den ein geschickt komponierter Soundtrack auslöst. Viele Menschen erhalten erst durch die grossen Filmmusik-Komponisten wie Hans Zimmer oder John Williams Zugang zur klassischen Musik.

«Wie wichtig Musik bei der Begleitung eines Films ist, merkt man, wenn man einen Stummfilm schaut», sagt Hans G. Syz-Witmer, «Musik im Film ist elementar, um die Vorstellungskraft zu unterstützen und Stimmungen entstehen zu lassen.» Wissenschaftler erklären die Wirkung von Musik damit, dass Töne durch das Ohr in alle Ebenen des Gehirns vordringen und dort komplexe Reaktionen in Gang setzen, noch bevor unser Bewusstsein eingeschaltet wird. Musik ist mithin weit mehr als eine Abfolge akustischer Signale: Sie hat einen direkten Draht zu unseren Emotionen. Manchmal rührt sie zu Tränen, manchmal lässt sie es im Bauch kribbeln.

«Musik im Film ist elementar, um die Vorstellungskraft zu unterstützen und Stimmungen entstehen zu lassen.»

Hans G. Syz-Witmer, Vizepräsident der Tonhalle-Gesellschaft Zürich, Präsident des Verwaltungsrates Maerki Baumann & Co. AG

Die Tonspur des Lebens

App statt Album
Filmmusik steht auf der Playlist von Hans G. Syz-Witmer weit oben, angefangen beim Western-Klassiker «Spiel mir das Lied vom Tod» von Ennio Morricone. Ähnlich dramatisch, aber viel wuchtiger ist das 2. Klavierkonzert von Sergej Rachmaninoff. Auch das Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven gehört zu seinen ewigen Favoriten. Streamingdienste und Plattformen haben auch seine Hörgewohnheiten umgepflügt: Ist der Konzertraum zu, öffnet man einfach das Online-Archiv. Die digitalen Musikspeicher erlauben es den Musikfans, jederzeit ihre eigenen Hitparaden zu erstellen und abzuspielen. Die statistische Auswertung zur Art des Musikgenusses und der Lieblingsinterpreten gibt es obendrein genauso wie eine endlose Reihe von Hörvorschlägen, auf dass der Musikstrom nie versiegen möge. 

So nützlich und beliebt diese Dienste sind: Sie holen auch den Wert von Live-Erlebnissen mit ihrer eigenen, unwiederholbaren Wirklichkeit ins Bewusstsein. Der Funke zündet einfach anders in einem realen Konzert. Es bleibt gebunden an Tag und Stunde, an den Hall des Raumes und des Instruments, an die Anwesenheit bestimmter Menschen, an Schweissausbrüche, Tränenflüsse. Es ist das Original, das nur im Moment gültige und geniessbare Musikerlebnis. In dieser gemeinsam errungenen Wirklichkeit fühlt sich das Publikum getragen wie von einer unsichtbaren Hand, bis zum Schlussakkord und darüber hinaus.

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